April, 2022

Depersonalisierung und Entfremdung als Abwehrvorgang in der Psychose und Selbstbeobachtung als deren Heilungsversuch

Fasst man die Depersonalisierung als ein dynamisches Geschehen auf, wird ihr Abwehrcharakter deutlich, in dessen Natur es liegt, schwer greifbar zu sein. Wie funktioniert nun die Abwehr in der Depersonalisierung, welche Aufgabe hat das Ich zu leisten und welche Einschränkungen muß es sich gefallen lassen?

Text   Dr. Ute Müller-Spiess

Es war Richard STERBA, der in seinem bekannten Vortrag »Das Schicksal des Ichs im Therapeutischen Verfahren« im September 1932 am XII. Int. Psychoanalytischen Kongress in Wiesbaden, an der Deutung des Übertragungswiderstandes gezeigt hat, dass die Toleranz gegenüber abgewehrten Triebregungen mittels einer Spaltung des Ichs in einen vernünftigen, urteilsfähigen Teil und einen erlebenden Teil wirksam werden kann.
Es bleibt nun zu untersuchen, wie sich diese wünschbare »Selbstbeobachtung« und »Ich-Spaltung« von der der Abwehr dienenden Selbstbeobachtung und Spaltung unterscheidet, die beide dem Ziel dienen, Isolierungen aufrechtzuhalten und das Bewusstmachen von Abkömmlingen des Unbewussten zu verhindern. Bedient man sich des psychoanalytischen Zugangs zum Verständnis der Selbstbeobachtung, beleuchtet Dynamik und Ökonomie, bemüht sich um eine struktur- und entwicklungstheoretische Zuordnung, bemerkt man, dass sich hinter dem oft konstruktiv getarnten Phänomen viel „Scheinheiligkeit“ verstecken kann.
Dann tummeln sich hier ungeniert prägenitale Abkömmlinge, und das im Dienste eines begeisterten Über-Ichs. Der unbewusste Sinn der Selbstbeobachtung als Leitsymptom wird sich nach einem etwas dogmatisch geführten Ausflug in die metapsychologische Betrachtungsweise eines vom Psychiater als De-Personalisation diagnostizierten, vom Psychoanalytiker als Abwehr verstandenen Phänomens leichter ableiten lassen.
Psychiater begegnen immer wieder dem Phänomen, dass Patienten verschiedenster Diagnosegruppen mit auffällig ähnlicher Wortwahl ein sie quälendes Symptom von Fremdheit, Verlorenheit, Verschwommenheit und Unerreichbarkeit beschreiben.
Auf nähere Befragung kann sich dieses Erleben sowohl auf Sinneswahrnehmungen, Denkvorgänge, Gefühle, Körper oder einzelne Körperteile, sowie auf die äußere Realität und einzelne Personen erstrecken. Besonders scheint dabei immer, dass trotz subjektiv erlebter Unfähigkeit, sich wahrzunehmen, nur eine starke Tendenz zur Selbstbeobachtung auffällig ist. Die Betroffenen klagen, sie könnten sich nicht mehr spüren, sie seien nicht mehr in der Lage, Menschen und Umgebung richtig wahrzunehmen, irgendwie stehe etwas zwischen ihnen und ihrer Wahrnehmung.
Diese Unmöglichkeit, sich als einheitliche Person zu erleben, könnte man nun mit Eugen BLEULER in psychiatrischer Diktion neben einem Mangel an Einheitlichkeit des Denkens und des Gefühllebens als eine Grundstörung der schizophrenen Psychose diagnostizieren und als Depersonalisationserlebnis beschreiben.
Nun ist die Störung der Depersonalisation jedoch im kontinuierlichen Übergang vom füchtigen Entfremdungserlebnis des Gesunden, das im Zustand starker Ermüdung und Erschöpfung auftreten kann oder als Erlebnisreaktion nach Schreck und plötzlicher Deprivation bis hin zum Prodomalsymptom der schizophrenen Erkrankung zu beobachten.
Der Betroffene würde sich ungefähr so ausdrücken: »Ich weiß, dass ich gehe, stehe, spreche und höre, ich erlebe mich jedoch nicht als gehend, es ist mir alles fremd geworden. Ich weiß, es bin ich, der spricht, und doch erlebe ich den Klang als fremd. Meine Stimme kommt wie von weit her.«
Immer ist ein intensives Gefühl der Angst und Hilflosigkeit über das Vermissen der Echtheit der Wahrnehmung von äußeren wie inneren Erlebnissen zu spüren. Der psychoanalytische Zugang zum psychiatrischen Symptom scheint anfänglich immer nur schwer lösbar. – E. GLOVER bezeichnet psychiatrische Diagnosen sehr treffend als »Klumpensymptome«. Erst der Versuch, die ökonomische und dynamische Vorbereitung zum Symptom zu erkunden, sowie eine metapsychologische Zuordnung zu finden, bringt Bewegung in ein so festgefügt scheinendes, statisches psychiatrisches Symptom.
Fasst man die Depersonalisierung als ein dynamisches Geschehen auf, wird ihr Abwehrcharakter deutlich, in dessen Natur es liegt, schwer greifbar zu sein.
Wie funktioniert nun die Abwehr in der Depersonalisierung, welche Aufgabe hat das Ich zu leisten und welche Einschränkungen muß es sich gefallen lassen?
Stellen wir es als vorläufige Annahme hin, dass ihre wesentlichen Merkmale im Abwehrcharakter einer Ich-Spaltung in Form konflikthafter Einstellung im Ich bestehen. Dass sich die Depersonalisierung also eines Spaltungsmechanismus (-prozesses) bedient und auf ein frühes, in seiner synthetisierenden Funktion noch nicht festes Ich trifft.
Nun sind Spaltungen im Ich keine Seltenheit.
Die rein metapsychologische Betrachtungsweise zeigt hier, dass die in konfliktfreier Atmosphäre bestehende Harmonie zwischen der Ich-Funktion der primären Selbstbeobachtung (als primitive Ich-Funktion in Form der nach innen gerichteten Wahrnehmung gemeint) und der Instanz versagt, die sich im Laufe der Entwicklung als kritische und beobachtende Einstellung herausdifferenziert, sodass die Wahrnehmung nun ihrer Echtheit und Vertrautheit beraubt wird.
Vom ökonomischen Gesichtspunkt aus betrachtet, findet sich dieser Vorgang dort, wo eine Verschiebung der Libido vom Objekt zum Ich (.. Schwebezustand ..) eben stattfindet, dabei jedoch auf ein schwaches und unfertiges oder regrediertes Ich trifft, in welchem Falle eben die primäre Selbstbeobachtung und ein frühes Über-Ich noch nicht an einem Strang ziehen. Nicht die Realität an sich wird nun verleugnet, jedoch ihrer Wahrnehmung wird die Echtheit genommen, was dieses spezifische Gefühl der intensiven Fremdheit auslöst.
In diesem Sinne spreche ich von einem SpaltungsProzess.
Unter Berücksichtigung von Destruktionstrieb und Triebentmischung entstehen dabei die quälenden Klagen des Vermissens der Vertrautheit, die an eine Kastrationsbefürchtung erinnern.
Der Betroffene ist noch in der Lage, die äußere und innere Wirklichkeit wahrzunehmen, also allen gewohnten Lebenslagen (realitäts-) gerecht zu werden, nimmt jedoch der Wahrnehmung die Realität, indem er sie verleugnet. So bleibt das Ich in seiner Funktion des Realitätssinnes ungestört, ist jedoch der Echtheit seiner subjektiven Wahrnehmung beraubt.
Soweit der psychoanalytische Zugang zum spezifischen Mechanismus der Depersonalisierung.
Dabei erwähnte ich bereits, dass dem Beobachter neben der Beschreibung des subjektiv erlebten Gefühls der Fremdheit eine latente ich-bezogene Selbstbeobachtung, die sich hinter der scheinbar nach außen gerichteten Aufmerksamkeit verbirgt, auffält.
Die normale Funktion des Ichs, Selbstbeobachtung im Dienste des Über-Ichs, wird weit übertrieben, viel unverhüllter werden die Geheimnisse des Unbewussten preisgegeben:
»Immer wenn ich mich so fremd und nicht wirklich fühle, muß ich aufpassen, dass der Nebel, der mich umgibt, mich nicht blind oder für andere unsichtbar macht und beginne sofort zu denken. Wenn es ganz schlimm wird, beginne ich meinen Namen zu wiederholen oder stelle mir mein Spiegelbild vor. Es hilft nur kurz, denn es bleibt nicht in mir, so muß ich wieder neu beginnen. Das wirklich Anstrengende dabei ist aber, dass ich mir dabei zuschaue und mich ständig kritisiere« – »Jetzt denkt sie schon wieder.« – »Es bestätigt mir, dass es überhaupt stattfindet und macht mich wieder wirklicher. Hier in der Analysestunde rede ich dann immer besonders viel, klammere mich an die Worte und übertreibe auch, damit Sie mich auch ganz verstehen. Aber es ist nur ein Bild, das ich von mir mache. So wie es nur mein Name ist. Alles bleibt unecht.«
Das eigene Beobachten kann hier nur eine Scheinobjektivität erzeugen. Natürlich liegt die Schwierigkeit darin, dass ein Name ohne die entsprechende innere Objektrepräsentanz seine Vitalität und psychische Bedeutung verliert.
In dieser Beschreibung eines Depersonalisationserlebnisses regt jedoch neben der Schwierigkeit einer Objektkonstanz noch einiges mehr zum Nachdenken an.
Ohne Zweifel ist die Selbstbeobachtung im Dienste der Realitätsprüfung eine normale Funktion des Ichs im Auftrage des Über-Ichs. Hier stellt sich das Ich fast zur Gänze dem Uber-Ich zur Verfügung, das restliche registriert schmerzlich den Verlust seiner Integrität.
Die selbstbeobachtenden Darstellungen, die das Ich daran hindern, mit unbewusstem Material konfrontiert zu werden, bieten dem Analytiker zwar Einblicke, sind jedoch jenem Widerstand gleichzusetzen, bei dem nur über die Vergangenheit geredet würde, ohne dass ihr Fortwirken in der Gegenwart zur Kenntnis genommen wird.
In dieser akademisch anmutenden Atmosphäre findet man häufig einen Analysanden, dessen »morbidex Selbstbeobachtung (FLESS) nicht als Widerstand erkannt und analysiert wurde. Wendet man sich der ökonomischen Untersuchung zu, was diesen Analysanden so hartnäckig daran festhalten läßt, ihn so zwanghaft erscheinen läßt und wer sich dieses Widerstandes vorzüglich bedient, kann man den unbewussten Sinn vorerst darin annehmen, dass damit die Phantasie vom Mangel an eigenen Empfindungen aufgehoben werden soll. Wenn nun das Zwanghafte und dem eigenen Willen Entzogene« (Reik 1927) Kennzeichen für die Abkunft aus dem Triebleben sind, würde der Betroffene in seinem unzulänglichen Versuch einer Neuorientierung im Ich sich ungefähr so ausdrücken: »….und ständig bin ich damit beschäftigt, mich zu beobachten, mich mit den anderen zu vergleichen, um festzustellen, wie sie in dieser Situation fühlen könnten. Die anderen müssen mir helfen, die eigenen passenden Gefühle zu finden.«

Die Tendenz zur Beobachtung widerspricht fortwährend der Tendenz zum Leben, sie vertritt somit den inneren Widerspruch.
Bewusst dient sie der Suche nach vollem Erleben, unbewusst, die Phantasie von Unwirklichkeit zu erhalten. Alles wird so nur mehr im Hinblick auf die eigene Person und nicht im Hinblick auf die Sache selbst erlebt. Der Betroffene weiß unverändert, dass die Welt dieselbe ist, ihm nur anders scheint. Im Gegensatz zum psychotischen Menschen, der die Welt in seiner Phantasie wirklich verändert hat, sie sogar untergehen lässt. Am deutlichsten ist die Widersprochenheit der Gefühle, die am vollen Erleben hindert, bei jenen zu erkennen, die betonen, sie sehen und hören nicht mehr wirklich, obwohl nichts auf eine Störung hinweist. Keine noch so hochwertige Leistung ist eingeschränkt und doch wird sie nicht aus ihrer Mitte kommend erlebt, sondern aus der Peripherie, fremd oder wie automatisch.
Das Übertriebene und Eindringliche der Darstellung wäre dann der schmerzhafte Versuch, mit Worten einen inneren Verlust der Echtheit zu überbrücken.
Der Versuch, die drohende narzisstische Kränkung zu bewältigen, die Angst vor der Konfrontation mit einem ungenügenden Selbst sowie mit abgewehrten Triebabkömmlingen, läßt in diesem Moment die Selbstbeobachtung die Hauptrolle im Seelenleben übernehmen.
Das übermäßige Verlangen, eigene Empfindungen durch Schauen zu erleben, lässt bereits an eine Umwandlung und eine Einschränkung der primitiven kindlichen Schaulust denken. Hier werden abgewehrte Triebregungen frei, deren sich das erhaltene Ich durch Selbstbeobachtung zu erwehren versucht, sie gleichzeitig aber unverhüllt als Umwandlungsprodukte des verdrängten Schautriebes und der Zeigelust in ihrem engen Zusammenwirken preisgibt.
Neben der übertriebenen Neigung zur Selbstbeobachtung findet man häufig einen starken Hang zum Grübeln, zwanghafte Neugier oder die Suche nach allem Rätselhaften, hinter deren letzten Endes unbefriedigten Lust sich verdrängte Schaulust annehmen lässt.
Auffallend unproduktives Interesse an Konkretem oder Nebensächlichkeiten verbirgt ebenso eine Neugier von infantilem Charakter: Hier richtet sich die Libido nicht mehr auf das verbotene (inzestuöse) Ziel, nicht mehr auf das, was man nicht sehen darf, sondern auf das, was man sehen darf.
Im Falle der Selbstbeobachtung wiederum auf das, was man nicht sehen kann. Die vielen Fragen bleiben unbeantwortet, die Suche nach Objektivität erfolglos, die Denkarbeit ein unfruchtbares Bemühen. Das Geheimnis und der Konflikt der beiden Bestrebungen, deren eine wissen möchte, die andere nicht wissen darf, bleiben erhalten. Die gleichzeitige Regression auf eine Entwicklungsstufe, wo »innen und außen«, Selbst- und Objektrepräsentanz, in noch nicht ausreichendem Maße geschieden werden können, enthüllt den Rückzug in die Bahnen des kindlichen Narzissmus.
Das ängstliche Sichnichtauskennen, Nichtwissen, verbunden mit konsequenter Selbstsuche sind Zugeständnisse an das Über-Ich, in die sich verdrängte Es-Regungen schmuggeln. Der exhibitionistische Wunsch kommt als voyeuristische Lust des sich Selbstbeschauens nur zur teilweisen Befriedigung. Der Ausdruck der Klagen erinnert dabei an Kastrationsbefürchtungen. Im Laufe des analytischen Prozesses wird sich das Ich verändern. Die »scheinheilige« Selbstbeobachtung wird ihre Hintergedanken letzten Endes preisgeben dürfen und zunehmend auf ihre kritische Funktion, ihre Suche nach scheinbarer Objektivität und die gleichzeitige Befriedigung abgewehrter Triebregungen verzichten.
Von einem reifen Vorgang werden wir dann sprechen, wenn die Überlegenheit aufseiten eines synthesefähigen Ichs liegt und andererseits nicht ein dauernd einheitliches Ich (STERBA), wie in Fällen von überstarkem Narzissmus, vorherrscht.

Ute Mueller-Spiess, Wien

LITERATUR
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FLESS, Robert: The hypothesis of the two demi-institutions. In: Ego and Body-Ego. Verlag Schulte 1961
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– Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. Die am
Erfolge scheitern, In: Ges. Werke Bd. X, Fischer 1972
– Jenseits des Lustprinzips. In: Ges. Werke Bd. XIII, Fischer 1972
– Das Ich und das Es. In: Ges. Werke Bd. XIII, Fischer 1972
– Neurose und Psychose. In. Ges. Werke Bd. XIII, Fischer 1972
– Briefe an Romain Rolland. Eine Erinnerungsstörung auf der
Akropolis. In: Ges. Werke Bd. XVI, S. 250-257, Fischer 1972
– Die Ich-Spaltung im Abwehrvorgang. In: Ges. Werke Bd. XVII, S.
59-62, Fischer 1972
– Der psychische Apparat und die Außenwelt. In: Ges. Werke Bd.
XVII, S. 125-135, Fischer 1972
JACOBSON, Edith: Depersonalization. In: Journal of the American
Psychoanalytic Assoziation. Vol. 7,S. 581-610 (1959), deutsch: Die Depersonalisation. In: Depression, S. 179-212. Verlag Suhrkamp 1983
JACOBSON, Edith: Das Selbst und die Welt der Objekte. Verlag Suhrkamp 1978
MUELLER-SPIESS, Ute: Die scheinheilige Selbstbeobachtung. Turia&Kant: Wien: 1996
NUNBERG, Hermann: Über Depersonalisationszustände im Lichte der
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– Allgemeine Neurosenlehre auf psychoanalytischer Grundlage. Verlag
Hans Huber 1975
REIK, Theodor: Psychologie und Depersonalisation. In: Wie man Psychologe wird. Int. Psychoanalytischer Verlag, S. 34-100 (1927)
SCHILDER, Paul: Über Seelenblindheit. In: Medizinische Psychologie für Ärzte und Psychologen (1925), S. 46ff.
STERBA, Richard: The fate of the ego in psychoanalytic therapy. J. am. psa.ass. 15,S. 117-126 (1934)
WEISS, Edoardo: Wirklichkeitssinn und Wirklichkeitsprüfung. In: Psyche V. Jahrgang, 6. Heft 1951, S. 321-332